Netzwerk Kinderrechte Schweiz

Reformbedürftiges Abstammungsrecht

Kinder leben heute in vielfältigen Familienkonstellationen. Das Abstammungsrecht wird diesen gesellschaftlichen Realitäten nicht mehr gerecht. Bundesrat und Parlament streben daher eine Reform an. Das Kindeswohl als oberste Maxime des Abstammungsrechts sollte dabei Leitschnur der Reform sein.

Familienkonstellation sind in den letzten Jahren vielfältiger geworden. Immer mehr Kinder werden ausserhalb der Ehe geboren, leben in Regenbogenfamilien oder Einelternfamilien oder werden durch medizinisch unterstützte Fortpflanzung geboren. In Patchworkfamilien übernehmen neben den Eltern oftmals auch der neue Partner oder die neue Partnerin Verantwortung für das Kind. Aus kinderrechtlicher Sicht sind damit zahlreiche Fragen verbunden: es geht um das Rechtsverhältnis zu den biologischen und sozialen Eltern, aber auch um das Recht auf Identität und Kenntnis der eigenen Abstammung.


Diese Fragen sind im Abstammungsrecht geregelt. Es legt fest, wem ein Kind rechtlich zuzuordnen ist und welche Regeln gelten, um dies anzufechten. Das Abstammungsrecht hat mit den gesellschaftlichen Entwicklungen nicht schrittgehalten. Der Reformbedarf ist seit langem anerkannt und wurde auch vom Bundesgericht kürzlich erneut festgestellt.


Postulatsbericht des Bundesrates

Der Ständerat hat im Dezember 2018 mit dem Postulat 18.3714 den Bundesrat beauftragt, den Reformbedarf im Abstammungsrecht zu überprüfen. Eine Gruppe aus namhaften Expert*innen hat sich daraufhin mit dieser Frage befasst und eine tiefgreifende Reform des Abstammungsrechts vorgeschlagen. Der Bundesrat anerkennt in seinem Postulatsbericht vom Dezember 2021 zwar einen gewissen Reformbedarf, die von ihm vorgeschlagenen Anpassungen gehen jedoch deutlich weniger weit als die Empfehlungen der eingesetzte Expert*innengruppe.


Festhalten am Grundsatz «mater semper certa est» und der Vaterschaftsvermutung

Der Bundesrat will am Grundsatz «mater semper certa est» festhalten. Demnach ist die Mutter immer diejenige Frau, die das Kind geboren hat. Auch die Expert*innengruppe war der Ansicht, dass das Kindesverhältnis zur gebärenden Mutter nicht anfechtbar sein soll. Die Anknüpfung an die Geburt sei klar und stelle sicher, dass jedes Kind ab Geburt über einen Elternteil verfüge, was auch mit Blick auf das Kindeswohl zu begrüssen ist.


Entgegen der Empfehlungen der Expert*innengruppe empfiehlt der Bundesrat, auch an der Vaterschaftsvermutung eines in der Ehe geborenen Kindes festzuhalten. Demnach entsteht ein Kindsverhältnis zum Vater durch Ehe mit der Kindsmutter zum Zeitpunkt der Geburt. Diese originäre Elternschaft gilt mit der Zustimmung zur «Ehe für alle» auch für die Ehefrau der Kindesmutter.


Keine Mehrelternschaft

Die Expert*innengruppe schlägt Modelle für eine Mehrelternschaft vor. Dies ist beispielswiese in Fällen relevant, in denen die Partnerin oder der Partner eines Elternteils nach dem Tod des anderen Elternteils dessen Kind adoptieren möchte (Stiefkindadoption). In diesem Fall erlischt das Kindesverhältnis zum verstorbenen Elternteil, und das Kind verliert die rechtlichen Beziehungen zum verstorbenen Elternteil und dessen Verwandten.


Der Bundesrat will jedoch den Grundsatz des Zwei-Eltern-Prinzips bewahren. Gemäss Bundesrat würde Mehrelternschaft nicht nur bedeuten, dass mehrere Personen bereit seien, rechtlich Verantwortung für ein Kind zu übernehmen. Eine Mehrelternschaft hätte Auswirkungen auf andere Rechtsbereiche wie beispielsweise das Sozialversicherungsrecht, das Bürgerrecht oder das Ausländerrecht – entsprechend komplex seien die Auswirkungen.


Regelung der privaten Samenspende

Der Bundesrat unterstützt den Vorschlag der Expert*innengruppe für die Regelung der privaten Samenspende, die das Recht des Kindes auf Kenntnis der Abstammung gewährleistet und gleichzeitig die Rechtsstellung aller bei der Zeugung des Kindes beteiligten Personen klar regelt. Künftig soll der Samenspender schriftlich auf das Kindesverhältnis zum gezeugten Kind verzichten. Weiter soll er seine Daten in das Informationsregister eintragen, sodass das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner eigenen Abstammung gewährleistet ist. Ist das Frauenpaar verheiratet, soll für die Ehefrau der Mutter analog zu verheirateten andersgeschlechtlichen Paaren die Elternschaftsvermutung gelten. Bei unverheirateten Paaren sollen die Wunscheltern eine schriftliche Elternschaftsvereinbarung abschliessen.


Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung gesetzlich regeln

Weiter schlägt der Bundesrat eine gesetzliche Regelung des Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung (d.h. Recht auf Kenntnis aller genetischen Elternteile und des biologischen Elternteils) vor. Dieses Recht soll unabhängig von den Umständen der Zeugung des Kindes oder der rechtlichen Beziehung zu den Eltern gesetzlich geregelt werden. Die Expert*innengruppe schlägt hierfür ein zentral geführtes Informationsregister vor, in dem sämtliche Daten in Zusammenhang mit der genetischen und biologischen Abstammung einer Person erfasst sind. Damit soll ein Recht auf Dateneinsicht und Abstammungsuntersuchungen sowie auf Unterstützung bei der Informationsbeschaffung verbunden sein. Weiter soll es eine Informations- und Auskunftspflicht der Eltern gegenüber dem Kind geben. Sie müssten das Kind altersgerecht über die besonderen Umstände der Zeugung aufklären.


Anfechtung der Vaterschaft

Schliesslich will der Bundesrat die Möglichkeiten zur Anfechtung der Vaterschaft unabhängig vom Zivilstand der Eltern regeln. Er stimmt mit der Expert*innengruppe überein, dass ein erhöhter Schutz der Vaterschaftsvermutung des Ehemannes nicht mehr angezeigt ist. Die Anfechtung der Vaterschaftsvermutung soll künftig einheitlich geregelt sein, unabhängig vom Zivilstand der Eltern.


Reformbedarf auch bei Leihmutterschaft

Reformbedarf besteht auch im Falle von Kindern, die im Ausland durch Leihmutterschaft geboren sind. Leihmutterschaft ist in der Schweiz verboten. In der Praxis umgehen aber immer mehr Paare dieses Verbot und nehmen die Dienste einer Leihmutter im Ausland in Anspruch. Nach geltendem Recht kann in der Schweiz sodann das Kindesverhältnis zum genetischen Wunschvater anerkannt werden, nicht aber ein Kindsverhältnis zur Mutter. Die Expert*innengruppe sieht hier Handlungsbedarf. Die Berücksichtigung des Kindeswohls als oberste Maxime des Kindesrechts sowie das Recht des Kindes, Eltern zu haben, die für es sorgen, verlange eine Möglichkeit, zwischen dem durch Leihmutterschaft geborenen Kind und der Wunschmutter ein Kindsverhältnis zur begründen.


Der Bundesrat geht in seinem Postulatsbericht auf die Empfehlungen des Expert*innenberichts hinsichtlich der Leihmutterschaft nicht weiter ein. Dies obwohl die rechtliche Situation der betroffenen Kinder in der Schweiz prekär ist. Das Bundesgericht hat kürzlich in einem Urteil vom 7. Februar 2022 bestätigt, dass ein in Georgien durch eine Leihmutter geborenes Zwillingspaar nur zum genetischen Wunschvater ein rechtliches Kindsverhältnis hat. Die genetische (Wunsch-) Mutter wird nicht als rechtliche Mutter anerkannt. Denn gemäss dem Grundsatz «mater semper certa est» ist die Mutter immer diejenige Frau, die das Kind geboren hat. Die Wunsch-Mutter muss demnach das Zwillingspaar adoptieren, ansonsten bleibt die Leihmutter die rechtliche Mutter. Im Rahmen des Urteils hat das Bundesgericht seine Aufforderung an das Parlament wiederholt, das Abstammungsrecht zu reformieren.


Vertrauliche Geburt

Aus kinderrechtlicher Sicht bedeutend ist auch die Regelung der vertraulichen Geburt. Auch die Empfehlungen der Expert*innengruppe zu diesem Thema sind im Bundesratsbericht nicht thematisiert. Die Expert*innengruppe hat vorgeschlagen, die vertrauliche Geburt für Frauen in Notlagen schweizweit gesetzlich zu verankern. Die vertrauliche Geburt stellt die medizinische und psycho-soziale Betreuung von betroffenen Frauen bereits während der Schwangerschaft und auch nach der Geburt sicher und ermöglicht die medizinische Betreuung Kindes vor und nach der Geburt. Die vertrauliche Geburt ermöglicht, das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung zu waren.


Vorstösse im Parlament

In Folge des Postulatsberichts hat Ständerat Andrea Caroni die Motion 22.3235 eingereicht, die den Bundesrat auffordert, die rechtlichen Grundlagen für die vorgeschlagenen Reformen auszuarbeiten. Parallel dazu hat die Rechtskomission des Nationalrats zwei Motionen beschlossen, die zum Ziel, haben, Kinder, die nach ausländischen fortpflanzungsmedizinischen Verfahren oder mittels privater Samenspende gezeugt werden, rechtlich besser abzusichern.


Die Motion (22.3383) «Alle Kinder ab Geburt rechtlich absichern» will die Elternschaftsvermutung ausweiten auf Kinder von gleichgeschlechtlichen (Ehe-)Paaren, die in einem fortpflanzungsmedizinischen Verfahren im Ausland oder mittels einer privaten Samenspende gezeugt wurden, sofern gesichert ist, dass die Kenntnis der Abstammung gewährleistet ist. Denn mit der «Ehe für alle» wird zwar die Ehefrau der Geburtsmutter als rechtliche Mutter anerkannt, dies gilt jedoch nur, wenn das Kind im Rahmen einer inländischen, professionellen Samenspende gemäss Fortpflanzungsmedizingesetz gezeugt wurde. Kinder, die nach ausländischen fortpflanzungsmedizinischen Verfahren oder mittels privater Samenspende gezeugt werden, sind rechtlich schlechter abgesichert. Die Motion ist damit begründet, dass auch diese Kinder von Geburt an rechtlich zwei Elternteile haben sollen und rechtlich optimal abgesichert sind.


Ergänzend will die Motion 22.3382 Hürden bei der Stiefkindadoption beseitigen. Konkret wird verlangt, dass bei Stiefkindadoption auf das einjährige Pflegeverhältnis gemäss Art. 264 Abs. 1 ZGB verzichtet werden soll, wenn der leibliche Elternteil zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes mit der adoptionswilligen Person eine faktische Lebensgemeinschaft mit gemeinsamem Haushalt führt. Die Wartezeit ist nicht im Interesse des Kindes, das dadurch in den ersten Lebensjahren nur einen rechtlichen Elternteil besitzt.


Fazit

Die Reform des Abstammungsrechts ist mit etlichen kinderrechtlichen Fragen verbunden. Das Netzwerk Kinderrechte Schweiz begrüsst die Bestrebungen des Parlaments und den Willen des Bundesrates, das Abstammungsrecht zu reformieren und Kinder rechtlich besser abzusichern. Im Besonderen begrüsst das Netzwerk, dass das Kindeswohl als Maxime des Abstammungsrechts anerkennt wird. Erfreulich ist weiter, dass der Bundesrat das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung gesetzlich verankern will. Darüber hinaus bleibt der Bundesratsbericht allerdings mutlos. Es ist eine verpasste Chance, die Empfehlungen de Expert*innenberichts integral umzusetzen und auch das Konzept der Mehrelternschaft zu prüfen. Bedauerlich ist zudem, dass die Empfehlungen der Expert*innengruppe zur Anerkennung von Kindern, die durch Leihmutterschaft geboren wurden, sowie zur vertraulichen Geburt im Bericht des Bundesrates nicht aufgenommen wurden.


Zu den Bericht des Bundesrates und der Expert*innengruppe

Medienmitteilung der Rechtskommission des Nationalrats vom 8. April 2022

Bundesgerichtsurteil 5A 545/2020 vom 7. Februar 2022

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