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Das Bundesgericht konkretisiert die Rechtsprechung zum sexuellen Missbrauch von Kindern

In seinem Urteil vom 9. April 2020 präzisiert das Bundesgericht die Rechtsprechung zum Schutz der sexuellen Freiheit von Kindern. Das Gericht konkretisiert, dass bei sexuellem Missbrauch von Kindern durch einen nahestehenden Täter auch dann von Zwang ausgegangen werden kann, wenn keine konkreten Drohungen ausgesprochen wurden. Das Urteil schützt damit Kinder stärker als Erwachsene.

Ein Mann missbrauchte die Tochter seiner Lebensgefährtin über zwei Jahre wiederholt sexuell und wurde dafür im 2019 von dem Zürcher Obergericht zu acht Jahren Haft und einer Genugtuung von 50‘000 verurteilt. Nebst dem Tatbestand der „sexuellen Handlung mit Kindern“ (nach Artikel 187 Strafgesetzbuch, StGB) sprach das Gericht den Mann auch der „sexuellen Nötigung“ und „Vergewaltigung“ (Angriffe auf die Sexuelle Freiheit, 189ff StGB) schuldig.


Der Verurteilte erhob gegen letzteres Beschwerde beim Bundesgericht, mit der Begründung, dass es sich nicht um einen Angriff auf ihre sexuelle Freiheit handelte – weil dieser Tatbestand laut Strafgesetzbuch voraussetzt, dass das Opfer aktiv unter Druck gesetzt wurde. Mit der Beschwerde wollte der Mann beim Bundesgericht geltend machen, dass zwar eine Situation des Geheimen geherrscht habe, er die Tochter seiner Lebenspartnerin weder bedroht noch einer anderen Form von Zwang ausgesetzt habe.


Das Bundesgericht wies diese Beschwerde jedoch klar zurück mit der Begründung, dass bei sexuellen Handlungen mit Kindern auch dann von einem Zwang ausgegangen werden kann, wenn keine konkreten Drohungen ausgesprochen wurden. Bereits der Umstand, dass der Täter seine Überlegenheit und Nähe in ihrem sozialen Umfeld ausnutzte und dem Mädchen eine Selbstverständlichkeit, Normalität oder ein Spiel der sexuellen Handlungen vermittelt hat, wertete das Gericht als eine Manipulation, welche einem psychischen Druck gleichkommt. Ausserdem befand das oberste Gericht, dass sich das Mädchen im konkreten Fall keinen eigenen Willen zu seiner sexuellen Freiheit bilden konnte.  Das Gericht legte zwar keine Altersgrenze fest, wann ein Kind zu dieser Willensbildung fähig ist, hielt aber fest, dass der Täter einen grossen Einfluss auf das Opfer hat, je jünger dieses ist.  


Mit dieser Rechtsprechung bestätigt das Bundesgericht, dass Kinder im Strafrecht stärker geschützt sind als erwachsene Opfer. Einerseits schützt der Tatbestand der „sexuellen Handlung mit Kindern“ ihre seelische Entwicklung, andererseits schützen die Tatbestände der „sexuellen Nötigung“ und „Vergewaltigung“ – gleich wie bei Erwachsenen – ihre sexuelle Freiheit.


Weitere Informationen


Medienmitteilung des Bundesgerichts vom 7. Mai 2020


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