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Gravierende Mängel im Asylverfahren von Minderjährigen – Gastbeitrag von Noémi Weber, SBAA

Ohne Glaubhaftigkeit kein Asyl – so lautet der Grundsatz der Schweizer Behörden bei der Behandlung von Asylgesuchen. Dies benachteiligt insbesondere verletzliche Personengruppen wie Minderjährige und traumatisierte Menschen. Die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht (SBAA).

Die Analyse der Glaubhaftigkeit ist im Asylverfahren von zentraler Bedeutung. Die Mehrzahl der Asylgesuche wird aufgrund der mangelnden Glaubhaftigkeit vom Staatssekretariat für Migration (SEM) abgelehnt. Von den asylsuchenden Personen wird erwartet, dass sie ihre Asylgründe möglichst detailliert und widerspruchsfrei erzählen und ihre Schilderungen plausibel sind. Dass diese Anforderungen für minderjährige Gesuchstellende oftmals zu hoch sind, zeigt das folgende Beispiel:


Der 12-jährige „Samir“ und sein Bruder „Adil“ flüchteten mit ihrer Familie aus Afghanistan. Unterwegs wurden sie von ihrer Familie getrennt. Gemeinsam stellten die beiden Brüder in der Schweiz ein Asylgesuch. Noch bevor „Samir“ angehört wurde, erhielt „Adil“ einen negativen Asylentscheid. Später wurde auch „Samirs“ Asylgesuch wegen fehlender Glaubhaftigkeit abgewiesen. Das SEM argumentierte, „Samir“ habe ungenügende Angaben zu seiner Herkunft gemacht, sich bloss auf die unglaubhaften Erzählungen seines Bruders abgestützt und versucht, die Asylbehörden zu täuschen. Erst nach einer Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht wurden die Brüder vorläufig aufgenommen (Fallnr. 233, SBAA).


„Samir“ war zum Zeitpunkt der Anhörung erst 12 Jahre alt. Die Argumentation des SEM ist nicht nachvollziehbar, denn von Kindern kann nicht erwartet werden, dass sie ihre Asylgründe gleich detailliert und chronologisch wie Erwachsene schildern können. Viele stehen ausserdem unter Schock oder sind traumatisiert – auch das kann die Aussagequalität beeinflussen. Die Befragenden müssen bei der Anhörung von Gesetzes wegen den „besonderen Aspekten der Minderjährigkeit“ Rechnung tragen (Art. 17 AsylG, Art. 7 AsylV 1). Aufgrund der rechtlich verbindlichen Kinderrechtskonvention ist die Schweiz zudem verpflichtet, das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen (Art. 3 KRK). Die SBAA fordert daher, dass die Behörden in Verfahren von minderjährigen Asylsuchenden ihre Untersuchungspflicht vollumfänglich wahrnehmen und den grösseren Teil der Beweisführung übernehmen. Für Kinder sollen besondere Verfahrens- und Beweisführungsgarantien gelten, wie dies auch das UNHCR fordert.


Seit 2014 müssen Asylgesuche von unbegleiteten Minderjährigen prioritär behandelt werden (Art. 17 Abs. 2bis AsylG). Die Behörden kommen dieser Gesetzesbestimmung jedoch nicht immer nach, wie der folgende Fall zeigt:


„Bereket“ war 16 Jahre alt, als er von den eritreischen Behörden inhaftiert und immer wieder geschlagen wurde. Als er eine Vorladung für den Nationaldienst erhielt, flüchtete er in die Schweiz und stellte als Minderjähriger ein Asylgesuch. Zum Zeitpunkt der Anhörung, die erst 1.5 Jahre nach der Einreise stattfand, war „Bereket“ schon volljährig. Das SEM lehnte sein Asylgesuch ab, weil seine Erklärungen, beispielsweise zu den Haftbedingungen, zu wenig detailliert und somit nicht glaubhaft seien (Fallnr. 332, regionale Beobachtungsstelle Romandie).


Mit Erreichen der Volljährigkeit erlosch auch „Berekets“ Anspruch auf eine Vertrauensperson, die ihn vorbereitet und zur Anhörung begleitet hätte. Dass er als Minderjähriger so lange auf seine Anhörung warten musste, ist aus Sicht der SBAA unverständlich. Zum Zeitpunkt der Anhörung waren bereits 2.5 Jahre seit den asylrelevanten Ereignissen vergangen. Für einen Rechtsstaat wie die Schweiz, die sich immer wieder auf ihre humanitäre Tradition beruft, ist ein solcher Umgang mit minderjährigen Asylsuchenden unwürdig.


Noémi Weber, Geschäftsleiterin SBAA


Der Fachbericht Glaubhaftigkeit im Asylverfahren (2019) kann als Broschüre bestellt oder auf www.beobachtungsstelle.ch heruntergeladen werden.


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