Netzwerk Kinderrechte Schweiz

EGMR-Urteil : Schweiz stellt zu hohe Hürden für Familienzusammenführungen

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in einem Urteil vom 4. Juli 2023 befunden, dass die Schweiz zu hohe Anforderungen an den Familiennachzug von geflüchteten Personen stellt und das Kriterium der Sozialhilfeunabhängigkeit zu restriktiv anwendet. Die Schweiz hat den Familiennachzug von geflüchteten Personen zu Unrecht verwehrt und damit das Recht auf Familienleben verletzt.

Für Familienzusammenführungen von geflüchteten und vorläufig aufgenommenen Personen gelten in der Schweiz hohe Hürden, dies gilt insbesondere für vorläufig aufgenommene Familien (siehe dazu Webbeitrag vom 30.04.2023). Der Familiennachzug ist für diese Personen nur möglich, wenn sie nicht von der Sozialhilfe abhängig sind. Weiter muss eine bedarfsgerechte Wohnung vorhanden sein und es gelten lange Wartefristen.


Das Recht auf Familiennachzug ist in der Europäischen Menschenrechtskonvention und in der Bundesverfassung garantiert. Auch Art. 10 der UN-Kinderrechtskonvention verlangt, dass Gesuche um Familienzusammenführung «wohlwollend, human und beschleunigt» bearbeitet werden. Die Schweiz lässt diese Bestimmung der UN-KRK nach wie vor nicht gelten und hat bei der Ratifikation der Konvention einen Vorbehalt zu diesem Artikel angebracht.


Im Urteil (B.F. und andere gegen die Schweiz) vom 4. Juli 2023 heisst der EGMR nun die Beschwerden von drei Personen gut, deren Gesuch auf Familiennachzug abgelehnt wurde, da sie Sozialhilfe beziehen. Der EGMR kam zum Schluss, dass die Schweiz das Recht auf Familienleben gemäss Art. 8 EMRK verletzt hat.


In den konkreten Fällen wurde der Nachzug minderjähriger Kinder der Beschwerdeführer beantragt, in einem Fall der Nachzug der minderjährigen Kinder und Ehefrau. In einem der Fälle war der Antragstellende Vollzeit erwerbstätig, die Behörden kamen jedoch zur Einschätzung, dass bei einem Nachzug der Familie keine realistische Chance auf finanzielle Unabhängigkeit bestehen würde. In einem weiteren Fall war die Antragstellerin zu 50% in einem Pflegeheim tätig und betreute jedoch als Alleinerziehende zudem drei minderjährige Kinder. Im dritten Fall war die Antragstellerin aus gesundheitlichen Gründen erwerbsunfähig.


Im Urteil kommt der EGMR zum Schluss, dass die individuelle Situation der geflüchteten Personen stärker berücksichtig werden muss. Behörden dürften nicht absolut am Kriterium der Sozialhilfeunabhängigkeit festhalten. Vielmehr müsse eine sorgfältige Interessenabwägung im Einzelfall gemacht werden. Die Anforderung an die Sozialhilfeunabhängigkeit müsse flexibel angewendet werden, insbesondere wenn die betroffenen Personen alles in ihrer Macht stehende unternehmen, um finanziell unabhängig zu werden. Ansonsten könne es zu einer dauerhaften Trennung der Familien führen.


Das Netzwerk Kinderrechte Schweiz hat die hohen Hürden für Familienzusammenführungen insbesondere von vorläufig aufgenommenen Personen bereits mehrfach kritisiert. Die langen Wartefristen und hohen Anforderungen an die wirtschaftliche Situation der Betroffenen sind mit der UN-Kinderrechtskonvention nicht vereinbar. Die Schweiz muss ihr System für Familienzusammenführung kinderrechtskonform ausgestalten und ihren Vorbehalt zu Art. 10 der UN-KRK endlich zurückziehen. Diese Forderung deckt sich mit der Empfehlung des UN-Kinderrechtsausschusses an die Schweiz.


EGMR-Urteil (B.F. und andere gegen die Schweiz, Nr. 13258/18 und weitere) vom 4. Juli 2023Empfehlungen des UN-Kinderrechtausschusses an die Schweiz vom 22. Oktober 2021

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