Netzwerk Kinderrechte Schweiz
Kinderrechtliche Fragen rund um die Zirkumzision
Bei der Beschneidung wird die Penisvorhaut ganz oder teilweise abgeschnitten. Der chirurgische Eingriff ist irreversibel. In der Schweiz sind Schätzungen zufolge rund 10 Prozent der männlichen Kinder beschnitten. Der Eingriff ist damit einer der häufigsten in der Kinderchirurgie. Die Beschneidung wird aus medizinischen, gesundheitlich-präventiven oder rituellen Gründen vorgenommen.
In medizinischen Fachkreisen ist ein umfassender Diskurs über das Abschneiden der Vorhaut und ihre medizinischen Indikationen bisher noch nicht breit zustande gekommen. Zu den Krankheitsbildern und Behandlungsmöglichkeiten der Vorhaut existieren keine einheitlichen medizinischen Standards. Gleichzeitig werden im wissenschaftlichen Diskurs aber zusehends die möglichen negativen Folgen und Langzeitwirkungen der Zirkumzision wie Blutungen und Infektionen nach dem Eingriff, spürbarer Sensibilitätsverlust, die Beeinträchtigung des Sexuallebens und psychische Probleme diskutiert.
Kinderrechtliche Fragen
Aus kinderrechtlicher Perspektive ist vor allem die Frage massgeblich, ob eine nach den Regeln der ärztlichen Kunst und mit Einwilligung der Eltern durchgeführte und medizinisch nicht indizierte Zirkumzision von einwilligungsunfähigen Kindern rechtlich zulässig ist. Die medizinisch nicht indizierte Zirkumzision greift zweifelsfrei in die grund- und menschenrechtlichen Ansprüche der betroffenen Kinder ein. So tangiert der Eingriff das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das in der Bundesverfassung garantiert ist (Art. 10 Abs. 2). Darüber hinaus tangiert die Zirkumzision weitere zentrale Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention, namentlich das übergeordnete Kindesinteresse (Art. 3 KRK), das Anhörungsrecht (Art. 12 KRK), die Rechte und Pflichten der Eltern (Art. 5 und 18 KRK), die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit des Kindes (Art. 14 KRK) sowie der Schutz vor Gewalt (Art. 19 KRK).
Auf Gesetzesebene ist die medizinisch nicht indizierte Zirkumzision bei einwilligungsunfähigen Knaben als einfache Körperverletzung zu qualifizieren (Eicker und Brand 2023). Aktuell kann ein körperlicher Eingriff dieser Art aber auf Wunsch und unter Einwilligung der gesetzlichen Vertretung (Eltern, Erziehungsberechtigte) durchgeführt werden.
Die Einwilligung der Eltern hat sich dabei am übergeordneten Kindesinteresse zu orientieren. Bei ebendieser Frage, ob die medizinisch nicht indizierte Zirkumzision bei einwilligungsunfähigen Knaben mit den Kindesinteressen vereinbar ist, stehen sich in den Rechtswissenschaften zwei Lager gegenüber. Auf der einen Seite besteht die Ansicht, dass eine Zirkumzision nur gerechtfertigt sein kann, wenn nach einer objektiven Abwägung die Vorteile des Eingriffs überwiegen. Auf der anderen Seite wird argumentiert, dass dem Staat das inhaltliche Definieren des übergeordneten Kindesinteresses und die Vornahme einer Kosten-Nutzen-Rechnung zum Nachteil des elterlichen Ermessens nicht zustehe.
Bis heute haben die Schweizer Justiz und der Gesetzgeber die neueren Forschungsergebnisse zu den Auswirkungen des Eingriffs nicht aufgearbeitet und die rechtlichen Fragen nicht geregelt. Und auch die internationalen Menschenrechtsgremien, allen voran der UN-Kinderrechtsausschuss, haben sich bis anhin nicht grundsätzlich zur medizinisch nicht indizierten Zirkumzision geäussert. (Siehe detaillierte Auslegeordnung von humanrights.ch)
Empfehlungen zum Vorgehen seitens Netzwerk Kinderrechte Schweiz
Die medizinisch nicht indizierte Zirkumzision von einwilligungsunfähigen Knaben greift in die grund- und menschenrechtlichen Ansprüche der betroffenen Kinder ein. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist ein wichtiges Grundrecht, das bei Kindern einen besonderen Schutz gegenüber kollidierenden Rechtsansprüchen gemäss Art. 11 BV geniesst.
Aus Sicht des Netzwerks Kinderrechte Schweiz braucht es in einem ersten Schritt eine Aufarbeitung und Klärung der zentralen Fragestellungen und eine Auseinandersetzung von Medizin, Politik, Betroffenenorganisationen und Religionsgemeinschaften zur medizinisch nicht indizierten Zirkumzision bei nicht einwilligungsfähigen Knaben.
Dazu sind Forschungsarbeiten zu den grundrechtlichen Fragestellungen und den physischen und psychischen Auswirkungen der Zirkumzision notwendig. In medizinischen Fachverbänden ist eine Auseinandersetzung mit der Zirkumzision und ihren medizinischen Indikationen angezeigt. Der Gesetzgeber muss die Forschungsbefunde schliesslich normativ verarbeiten.
Da die Zirkumzision für verschiedene Religionsgemeinschaften ein zentrales Element ihres Glaubens darstellt, muss die medizinische und rechtliche Aufarbeitung der «Knabenbeschneidung» aus Sicht des NKS von einem sorgfältigen und respektvollen Dialog mit Betroffenenorganisationen und Vertreter*innen von betroffenen Religionsgemeinschaften begleitet werden.