Netzwerk Kinderrechte Schweiz

Ein Recht auf Beschwerde – Rückblick auf die diesjährige Fachtagung

Vor sechs Jahren hat die Schweiz das dritte Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert. Dieses ermöglicht Kindern Beschwerde beim UN-Kinderrechtsausschuss einzureichen gegen konkrete Verletzungen ihrer Rechte. Die diesjährige Fachtagung des Netzwerks Kinderrechte Schweiz beleuchtet dieses Individualbeschwerdeverfahren anhand konkreter Fälle aus der Praxis. Zusammen mit Expert*innen evaluierte das Netzwerk an der Fachtagung Erfolge, Chancen und Hürden des Verfahrens sowie die innerstaatlichen Auswirkungen und die Rolle, die eine künftige Ombudsstelle für Kinderrechte in dieser Hinsicht spielen kann.

Kinder sind im Justizprozess aufgrund struktureller Hürden besonders vulnerabel. Beispielsweise existieren in den meisten Ländern Altersbeschränkungen, die jüngere Kinder daran hindern, ein Verfahren einzuleiten. Selbst wenn es zu einem Gerichtsverfahren kommt, sind diese in der Regel nicht kindgerecht und Fachkräfte nicht ausreichend geschult. Unterstützungsangebote für die betroffenen Kinder sind rar. Ein Instrument, um Kindern zu mehr Gehör und Zugang in diesen Belangen zu verhelfen, ist das Individualbeschwerderecht. Damit haben Kinder und ihre Vertretungen die Möglichkeit beim UN-Kinderrechtsausschuss Beschwerde gegen konkrete Verletzungen ihrer Rechte einzureichen.


Die Schweiz als Spitzenreiterin

Die Fachtagung vom 9. November 2023 mit mehr als 60 Teilnehmenden wurde durch Philip Jaffé, Mitglied des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes und ordentlicher Professor an der Universität Genf eröffnet. In seinem Referat vermittelte er einen allgemeinen Überblick und wichtige Kennzahlen zur bisherigen Anwendung der Individualbeschwerde.


Insgesamt hat der Ausschuss für die Rechte des Kindes bisher 235 Beschwerden registriert, bei 122 davon liegen bereits endgültige Entscheidungen vor, 113 Fälle sind derzeit noch hängig. Aus Angst vor einer Flut an Klagen, haben bis anhin jedoch nur 51 der 196 Vertragsstaaten der Kinderrechtskonvention das dritte Protokoll ratifiziert.


Ein besonderes Augenmerk warf Jaffé auf die Schweiz. Diese hat das Zusatzprotokoll 2017 ratifiziert und rangiert seither mit grossem Abstand an vorderster Stelle bei den eingereichten Beschwerden. Die häufigsten Fälle handeln von Rückführungen und Abschiebungen von Kindern in Asylverfahren, gefolgt von elterlichen Trennungssituationen und einer erheblichen Anzahl von Beschwerden über das Recht auf Bildung.


Zwei Fälle im Vergleich

Im zweiten Referat gab Joëlle Spahni einen Überblick der Schweizer Fälle, die vor den Kinderrechtsausschuss gekommen sind. Sie arbeitet als Head International bei AsyLex. Der Verein unterstützt Asylsuchende in ihrem Verfahren mit kostenloser, rechtlicher Beratung . Spahni betonte, dass die Prüfung des Asylantrages von Seiten der Behörden nicht immer sauber ablaufe. Daher seien internationale Instanzen wie das Beschwerderecht beim UN-KRK als Kontrollmechanismen von so grosser Bedeutung.


Anhand zweier konkreter Fälle berichtete Spahni, wie die Verfahren ablaufen können. Bei beiden Fällen sollten Kinder in ein Drittstaat ausgeschafft werden worauf der UN-Kinderrechtsausschuss auf Intervention von AsyLex zur weiteren Abklärung einen Vollzugsstopp gewährte. Im ersten Fall wurde die Beschwerde vor dem UNO-Kinderrechtsausschuss vom Staatssekretariat für Migration (SEM) als Wiedererwägungsgesuch qualifiziert und das Verfahren letztlich eingestellt.  Im zweiten Fall informierte AsyLex den UNO-Kinderrechtsausschuss, dass keine Organisation mehr medizinische Behandlung im Asylzentrum anbietet. Daraufhin sendete die Schweiz den Präzedenzfall des Bundesverwaltungsgerichts an den UN-Kinderrechtsausschuss. Zum Schluss betonte Spahni, dass die nationalen Verfahren einen wichtigen Grundstein legen für den Weiterzug des Falls an den UNO-Ausschuss. Denn erst wenn alle nationalen Instanzen ausgeschöpft seien,

könne man den Fall an den Ausschuss weiterziehen.


Holistischer Ansatz bei Recht auf Genesung

Das Referat von Boris Wijkström, Direktor des Centre suisse pour la défense des migrants (CSDM), legte den Fokus auf dem von der UN-Kinderrechtskonvention garantierten Recht auf Genesung. Wijkström betonte, dass die Mehrheit der Kinder, die Asyl beantragen, traumatisiert sind und entsprechende Behandlungen benötigen. Anhand eines konkreten Beispiels erläutert er, wie das Individualbeschwerderecht einen wichtigen Beitrag leisten konnte, damit ein vom Krieg traumatisierter Junge die entsprechende medizinische Behandlung erhielt. Dabei spielen auch die Rahmenbedingungen, in denen die Kinder leben, eine zentrale Rolle. Die Trennung von der eigenen Familie wirkt sich beispielweise negativ auf die Genesung aus und sollte daher wann immer möglich vermieden werden. Zudem sollte auch nahe Familienangehörige der Kinder von entsprechenden Massnahmen profitieren. Denn die mentale Gesundheit des Kindes ist stark von der mentalen Verfassung seiner direkten Bezugspersonen abhängig. Nur mit diesem ganzheitlichen Ansatz können die Rechte der Kinder tatsächlich geschützt und unterstützt werden.



Im anschliessenden Panelgespräch gingen Martin Bucher vom Staatssekretariat für Migration SEM, Valentina Darbellay, Präsidentin Netzwerk Kinderrechte Schweiz und Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Kinder- und Jugendfragen EKKJ, Roberta Ruggiero, Direktorin der Children‘s Rights Academy und Joëlle Spahni, Head International, AsyLex unter anderem der Frage nach, warum es verhältnismässig viele Beschwerden an den UN-Kinderrechtsausschuss aus der Schweiz gibt und wie sich diese auf die Asylpraxis auswirken.


Die Panelgäste waren sich einig, dass die vielen eingereichten Schweizer Fälle auf ein funktionierendes System hinweisen. Die daraus resultierenden Empfehlungen des Ausschusses tragen zu einem konstruktiven Dialog zwischen den unterschiedlichen Akteuren bei, der auch Einfluss auf politischer Ebene haben kann. Das Individualbeschwerderecht leistet als juristisches Instrument einen wichtigen Beitrag, damit Kinder als eine der vulnerabelsten Zielgruppen mehr Gehör erhalten in Anliegen, die sie direkt betreffen. Und die Staaten werden dazu veranlasst, die Kinderrechte auf nationaler Ebene auch wirklich umzusetzen. Diese Erfahrungen unterstreichen die Bedeutung einer künftigen nationalen Ombudsstelle für Kinderrechte.



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